Leinhausen – Ein Blick in Hannovers „Colonialgeschichte“

Zwar ist eine „Colonie“ das Thema dieses Beitrags, die Reise führt aber nicht gen Übersee, sondern – manche werden sagen, „nicht minder abgelegen“ – in das sandige Grenzland zwischen Herrenhausen und Stöcken. Mitte des 19. Jahrhunderts begann im Königreich Hannover die Ära der Eisenbahn: von immenser Bedeutung für die Industrialisierung. Mit der Anlage von Schienensträngen und Bahnhöfen allein war es aber nicht getan. Auch für Wartung und Reparaturen galt es, Sorge zu tragen. So entstand in der Nähe des hannoverschen Hauptbahnhofs eine Werkstätte. Doch da die Stadt rapide wuchs, gab es in so zentraler Lage keinen Raum für Erweiterungen.

Die „EisenbahnerHauptwerkstatt“, später „Reichsbahnausbesserungswerk“, musste umziehen. Es fand sich in den 1870er Jahren ein geeigneter Standort in den zunächst noch selbstständigen Gemeinden Herrenhausen (eingemeindet 1891), und Stöcken (eingemeindet 1907). Die Bahntrasse in Richtung Wunstorf lag nah und der Boden war wenig fruchtbar. Also fanden sich Grundeigentümer gern bereit, Land für gutes Geld zu verkaufen. Nur eines, das wollte man nicht: Den Betrieb samt Werkssiedlung und insbesondere die dort dann ansässigen Arbeiterfamilien in die eher konservativ geprägte Landgemeinde Herrenhausen integrieren. Die Lösung des Problems war, einen gesonderten Gutsbezirk auszuweisen, den „die Eisenbahn“ selbst verwaltete. Sogar Ehen schloss man dort vor einem Bahnbeamten.

Siedlung und Werk, seit 1877 im Aufbau, bald Leinhausen genannt und im Volksmund zur „Colonie“ befördert, blieben so auch nach den Eingemeindungen der Nachbardörfer Teil des Landkreises Hannover. Der Gutsbezirk war nun eine Enklave im städtischen Gebiet, deren Grenzen, insbesondere jene mit Herrenhausen, einen bemerkenswerten Verlauf aufwiesen. Blickt man von der heutigen SBahnStation Leinhausen die Stöckener Straße entlang stadtauswärts, so zählte die linke Seite einst zu Herrenhausen, die rechte zur Colonie – mit einer Ausnahme. Einige Grundstücke unweit des Eingangs zum Stadtfriedhof Stöcken waren „Herrenhäuser Staatsgebiet“. Ähnliche Grenzverhältnisse herrschten in der Elbestraße. Und auch eine andere Folge der Grenzziehung wird noch heute gern – wie zahllose andere Geschichten – von alten Leinhäusern erzählt. Man habe es gewagt, dem stadthannoverschen Polizisten auf der gegenüberliegenden Straßenseite eine „Lange Nase“ zu machen, schließlich sei jener diesseits nicht zuständig gewesen.

Die „legendären“ Arbeiterwohnhäuser mit Garten, wohl noch vor 1950 in der damaligen Harburger Straße. Foto: Bildersammlung des Schreibkreises Herrenhausen
Die „legendären“ Arbeiterwohnhäuser mit Garten, wohl noch vor 1950 in der damaligen Harburger Straße. Foto: Bildersammlung des Schreibkreises Herrenhausen

Die Werkssiedlung war durchdacht geplant. Mindestgrößen für Wohn und Schlafzimmer wurden eingehalten, große Hausgärten ermöglichten einen hohen Grad der Selbstversorgung und schufen ein grünes Quartier. Die Infrastruktur wuchs; schließlich verfügte man unter anderem über Schule, Turnhalle, Schwimmbad, Wannenbadeanstalt und seit der NSZeit auch über einen Bunker. Zugleich galt es aber, die Hierarchien eines selbstbewussten Staatsbetriebes städtebaulich zu spiegeln. Der Direktor verfügte über eine Villa, höhere Beamte bewohnten bessere Gebäude als niedere Chargen oder gar „einfache“ Arbeiter. Doch gerade die typische Arbeiterunterkunft, ein Doppelhaus für zwei Familien, wurde zur Legende – trotz oder wegen der schlechten Isolierung, des stillen, aber einer Spülung entbehrenden „Örtchens“ hinter dem Haus und des geliebten Gartens. Es kann nicht überraschen, dass sich die Colonie mit ihrer „Reichsbahnerbevölkerung“ bald durch ein besonderes soziales Milieu sowie großen Zusammenhalt der Einwohner auszeichnete, dem auch die Eingemeindung 1928 nichts anhaben konnte. Sogar eine Hymne wurde getextet und, nach der Melodie von „Oh Susanna“, als „Oh Leinhausen“ gesungen.

Der Abgesang begann erst um 1960. Der kaum noch gepflegte Baubestand war nicht mehr zeitgemäß. So fiel die Entscheidung, eine völlig neue Bundesbahnsiedlung zu errichten. Mit wenigen höheren Bauten, mit einigen Reihenhäusern und mit Blockbebauung mittlerer Höhe, mit viel Grün und einem kleinen Marktplatz an der Stöckener Straße besteht das „neue Leinhausen“ als einheitlich gestaltetes Wohngebiet im Kern noch heute. Eine durchaus attraktiv und qualitätvoll gestaltete Anlage, aber eben nicht die alte Werkssiedlung mit ihrem besonderen Milieu, zumal, wie die DB selbst, auch deren Wohnungsbaugesellschaften inzwischen privatisiert wurden. Außerdem verlor das Ausbesserungswerk rasch an Bedeutung. Heute werden hier nur noch die SBahnen instand gehalten und – immerhin – die ÜSTRA hat auf dem Gelände einen Stadtbahnbetriebshof eingerichtet. Sogar die Grenzen wurden „entwirrt“ und begradigt, übrigens zuungunsten Herrenhausens. Immerhin: Das alte, heute als Veranstaltungszentrum genutzte Leinhäuser Bahnhofsgebäude steht noch immer auf Herrenhäuser Grund und Boden.

Martin Stöber

MARTIN STÖBER
ist Geschäftsführer des Niedersächsischen Instituts für Historische Regionalforschung e.V. und hat u.a. Publikationen zur Geschichte Herrenhausens verfasst. Die monatliche Kolumne „hannoverhistorisch“ wird betreut von Prof. Dr. Carl-Hans Hauptmeyer

Der Text erschien bereits als Artikel in der Reihe „hannover historisch“ im hannoverschen Magazin „STADTKIND“ in Ausgabe 10/2015, S. 24. Die Wiederveröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des STADTKIND-Magazins.