350 Jahre Herrenhäuser Gärten. Ein Kristallisationspunkt hannoverscher Identität

Maison de Plaisir d’Herrenhausen. Marieanne von König (Hg.), Herrenhausen. Die Königlichen Gärten in Hannover, Göttingen 2006, S. 21.

Nirgendwo lassen sich 350 Jahre europäischer Kulturgeschichte so konzentriert erleben wie im Großen Garten in Herrenhausen, der über die Jahrhunderte sowohl Avantgarde als auch Anachronismus war – je nachdem, ob die Fürsten, Kurfürsten und Könige in Hannover residierten und welche Bedeutung sie ihrer Sommerresidenz beimaßen. Berühmt ist die Äußerung der Kurfürstin Sophie aus dem Jahr 1713: „Nur mit dem Herrenhäuser Garten können wir prunken, der in der That schön und wohl gehalten ist“.

Nach den Zerstörungen im 2. Weltkrieg erinnern in Hannover heute nur noch die Herrenhäuser Gärten an eine glänzende Epoche, die den planvoll betriebenen, politischen Machtzuwachs der in Hannover residierenden Herzöge von Braunschweig-Lüneburg in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts charakterisiert. Als Herzog Johann Friedrich 1665 die Regierung im Fürstentum Calenberg antrat, waren die Kurwürde (1692) oder gar die englische Thronfolge (1714) nicht absehbar, und doch legte er in vielfacher Hinsicht die Grundlagen für die Rangerhöhungen des Welfenhauses – in erbitterter Konkurrenz zur älteren Linie der Wolfenbütteler Vettern.
Nur ein Jahr nach seinem Regierungsantritt bestimmte Herzog Johann Friedrich 1666 den bisherigen Wirtschaftshof Höringhusen zu seiner Sommerresidenz Herrenhausen. Er gab die Anlage eines Schlosses samt einer repräsentativen Gartenanlage in Auftrag. Nach zehnjähriger Bautätigkeit fand 1675 das erste „Ablager“ in Herrenhausen statt. In dieser Zeit umfasste der Garten das Areal des heutigen Großen Parterres. Bis zu seinem Tod 1679 legte Johann Friedrich den Grundstein für die anschließende Vollendung des Großen Gartens unter Obhut der Kurfürstin Sophie. Der Ausbau in seinen heutigen Dimensionen, mit einer Verdoppelung der Gartenfläche nach Süden, wurde 1697-1714 abgeschlossen. Als Ort intensiven geistigen Austausches verlieh Sophie gemeinsam mit dem von Johann Friedrich 1676 nach Hannover berufenen Universalgelehrten Leibniz dem Garten eine spirituelle Dimension – während ihr Gatte Ernst August mit dem Großen Garten seinen machtpolitischen Anspruch im Heiligen Römischen Reich erfolgreich manifestierte.
Leibniz nahm über Jahrzehnte wesentlichen Einfluss auf die Gestaltung des Großen Gartens, dessen technische Ausstattung und Architektur. Als Ort intellektuellen Diskurses zwischen Leibniz, Sophie und ihrer Tochter Sophie Charlotte entwickelte sich der Große Garten im Spannungsfeld zwischen Leibniz‘scher Philosophie und höfischer Repräsentation. Dies verleiht dem Großen Garten bis heute seinen exzeptionellen Charakter.
Dass der Große Garten und die Sommerresidenz Herrenhausen nicht unmittelbar nach Beginn der Personalunion mit England 1714, sondern erst ab 1755 in den oft beschriebenen „Dornröschenschlaf“ fielen, ist vornehmlich auf die häufigen Besuche der beiden ersten englischen Könige aus dem Haus Hannover Georg I. (1714-1727) und Georg II. (1727-1760) zurückzuführen. Beide fühlten sich in London nie heimisch. Georg I. reiste sechsmal für mehrere Monate in seine Sommerresidenz Herrenhausen, die somit vorübergehend zum Schauplatz glänzender Feste und diplomatischer Konsultationen wurde. Der hier 1725 zwischen England, Frankreich und Brandenburg-Preußen geschlossene Herrenhäuser Vertrag ist nur ein Beispiel für die politische Bedeutung der welfischen Sommerresidenz.
Durch die Abwesenheit seiner Herrscher ab 1755 blieb dem Großen Garten das Schicksal anderer Barockgärten erspart, in einen englischen Landschaftsgarten umgewandelt zu werden. Der Unterhaltungsaufwand wurde über Jahrzehnte auf ein Minimum reduziert. 1763 wurde der Große Garten für das Publikum geöffnet, was bis heute zur hohen Identifikation der hannoverschen Bevölkerung mit den Herrenhäuser Gärten beiträgt. Während der napoleonischen Fremdherrschaft wurde der Garten zwar verwüstet, jedoch nicht völlig zerstört. 1810 hielt Jérôme Napoleon, Bruder des französischen Kaisers, als König von Westphalen sogar vierzehn Tage Hof in Herrenhausen. Erst die beiden letzten Könige Ernst August und Georg V. nutzten von 1837 bis 1866 Herrenhausen wieder als Sommerresidenz und nahmen nur behutsame Modernisierungen des Gartens vor.
1866 nach der Annexion des Königreichs Hannover durch Preußen verwaiste die Residenz und damit auch der Große Garten. Er wurde aus dem Welfenfonds bis 1934 unter preußischer Herrschaft unterhalten. Finanzielle Erwägungen führten 1936 dazu, dass die Stadt Hannover den Großen Garten und den Berggarten kaufte. Sofort setzten umfangreiche Restaurierungsmaßnahmen und eine historisierende Neugestaltung ein. Doch im Oktober 1943 wurde bei einem der schwersten Bombenangriffe auf Hannover das Schloss vollständig zerstört sowie Galerie- und Orangeriegebäude schwer beschädigt. Auch der Große Garten war bei Kriegsende in desolatem Zustand und diente in den Nachkriegsjahren auch als Nutzgarten.
Zum dreihundertsten Gartenjubiläum 1966 mit dem Besuch der englischen Königin setzte eine neue Renovierungsphase ein. Das inzwischen bereits wieder aufgegebene Gartenrestaurant und das Glasfoyer von Arne Jacobsen entstanden, ebenso wie das seither südlich des Galeriegebäudes befindliche Orangenparterre mit dem in Buchs gefassten Stadtwappen Hannovers. Zur Expo 2000 schuf Niki de Saint Phalle in alter Verbundenheit zu Hannover mit der Wiederherstellung der Grotte im Westen des ursprünglichen Schlosses ihr letztes Großprojekt. Grotte und Kaskade im Osten waren bereits unter Herzog Johann Friedrich errichtet worden und gehören zu den wertvollsten architektonischen Elementen des Großen Gartens. Das Schloss, das als verputzter Fachwerkbau von Anfang an höfischen repräsentativen Bedürfnissen nicht genügte, wurde 1819-1821 von Laves einem antikem Formenkanon folgend aufgewertet. Die Debatte über den Wiederaufbau des 1943 zerstörten Schlosses hatte 70 Jahre nie aufgehört – zentraler Aspekt war dabei neben der architektonischen Gestalt auch die Funktion eines Schlosses in einem demokratischen Staat. Und so ist es eine glückliche Fügung, dass die Wissenschaft in das 2013 wiedererrichtete Schloss zurückgekehrt ist und sich gelegentlich auch die große Politik wieder einfindet.

Dr. Annette von Stieglitz

Die Historikerin DR. ANNETTE VON STIEGLITZ leitet die Volkshochschule der Stadt Langenhagen. Die monatliche Kolumne „Hannover historisch“ wird betreut von Prof. Dr. Carl-Hans Hauptmeyer.

Der Text erschien bereits als Artikel in der Reihe „hannover historisch“ im hannoverschen Magazin „STADTKIND“ in Ausgabe 08/2016. Die Wiederveröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des STADTKIND-Magazins.