Gebietsreform war, als die Gemeinden heirateten

Vor 40 Jahren wurde manche Vernunftehe geschlossen

Die meisten wollten Single bleiben, viele ihren Namen behalten, manche weigerten sich bis
zuletzt, doch am Ende blieb sie kaum einer erspart: Die Vereinigung. Gemeint sind die Gemeinden, Städte und Landkreise, die durch die Niedersächsische Verwaltungs- und Gebietsreform von der Landkarte verschwanden. Im Raum Hannover trat die kommunale Neugliederung vor 40 Jahren – genau: am 1. März 1974 – mit dem „Hannover-Gesetz“ in Kraft.

Wie sehr sich die niedersächsische Landschaft veränderte, zeigen folgende Zahlen: Aus gut viertausend selbstständigen Gebietskörperschaften – den „Singles“ – wurden etwa tausend Städte und Gemeinden, aus 60 Landkreisen wurden 37 und die Zahl der kreisfreien Städte reduzierte sich von 15 auf neun. In allen westdeutschen Bundesländern
bewegten ähnliche Reformen ab Mitte der 1960er Jahre die Gemüter, vor allem im ländlichen Milieu. In traditionsreichen Dörfern sorgten sich Menschen um den Verlust ihres Ortsnamens, Kommunalpolitiker bangten um ihr Mandat und ehrenamtliche  Bürgermeister um ihr Amt.

Das niedersächsische Innenministerium lag also ganz im Trend, als es 1965 eine Sachverständigenkommission einberief. Das Gremium wurde nach ihrem Vorsitzenden, einem Göttinger Staats- und Verwaltungswissenschaftler, als Weber-Kommission bezeichnet. Mit der Reform wollte das Land eine bessere Infrastruktur und mehr Gerechtigkeit schaffen – „Chancengleichheit“ war ein politisches Schlagwort jener Zeit.

Noch während manche Gemeinde auf dem platten Land nichts ahnend sinnierte, wie ihre Zwergschule im Dorf bestehen bleiben konnte, strebten andere nach Stärke: Sie suchten sich Partner und „heirateten“. Die Gemeinden Havelse und Garbsen, direkt an Hannovers Stadtrand gelegen, waren solch ein Beispiel: 1967 schlossen sie sich zur damals einwohnerstärksten Gemeinde des Landes zusammen und durften sich ab 1968 stolz als Stadt bezeichnen.

Gebietsreform Niedersachsen 1974

Doch die Strategie der jung Vermählten schien nicht aufzugehen: Als die Weber-Kommission 1969 ihr Gutachten vorlegte, sollte Garbsen Teil der Landeshauptstadt werden. Auch die Städte Misburg, Laatzen und Teile Langenhagens waren zur Eingemeindung vorgesehen. Hannover träumte von einem ganzen Harem: Auf 37 selbstständige Städte und Gemeinden hatte die Landeshauptstadt zu Beginn der Reformphase abgezielt, was einen Bevölkerungszuwachs von rund 200.000 Menschen bedeutet hätte. „Man merkte deutlich, dass (Hannovers Oberstadtdirektor Martin) Neuffer und andere einflussreiche Hannoveraner in der Weber-Kommission saßen, aber das Umland nicht vertreten war“, äußerte sich der ehemalige Oberkreisdirektor Herbert Droste rückblickend.

Doch das Weber-Gutachten wurde mehrmals überarbeitet. Als das Hannover-Gesetz schließlich am 1. März 1974 in Kraft trat, sollte Hannovers Harem nur sieben neue Bräute umfassen. Das waren die Stadt Misburg und die Gemeinden Ahlem, Anderten, Bemerode, Vinnhorst, Wettbergen und Wülferode, die rund 65.000 neue Einwohner als „Mitgift“ in die „Ehe“ mit der Landeshauptstadt einbrachten.

Garbsen blieb damals als selbstständige Stadt bestehen. Durch die Gebietsreform und dank geschickter Heiratspolitik wuchs sie über Nacht zur zweitgrößten Stadt des Raums Hannover heran. Im vergangenen März feierte sie „Rubinhochzeit“. Als Ehrengast war Hannovers Oberbürgermeister Stefan Schostok mit dabei. „Garbsen ist immer noch
eine attraktive Braut“, äußerte er als freundlich gesinnter Nachbar, als er mit seinem Bürgermeisterkollegen eine riesige Rubinhochzeitstorte anschnitt. Und die Gemeinden? Na ja, die Kirche ist im Dorf geblieben, der Name steht immer noch auf Landkarten und manches ist besser als in der „guten, alten Zeit“! Man ist eben vernünftig…

Rose Scholl

ROSE SCHOLL
ist Leiterin des Stadtarchivs Garbsen und kuratierte die Ausstellung „Liebesheirat oder Vernunftehe? Seit 40 Jahren zusammen“, die im März 2014 im Garbsener Rathaus zu sehen war.

Der Text erschien bereits als Artikel in der Reihe „hannover historisch“ im hannoverschen Magazin „STADTKIND“ in Ausgabe 12/2014, S. 48. Die Wiederveröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des STADTKIND-Magazins.