Es begab sich im Jahre 1728, dass in Steinhude eine Weberzunft gegründet wurde. Das allein wäre noch keine Besonderheit, denn Zünfte gab es andernorts schon seit dem Mittelalter. Doch passierte damals Außergewöhnliches: Ein junger Mann, 18 Jahre alt, webte etwas, was man nicht weben kann…

Steinhude bestand damals aus 90 Häusern und Höfen. Bei der Gründung wurden 45 Weber in die Zunftrolle eingetragen, wobei im Ort aber deutlich mehr Menschen weben konnten. Einer davon war der 18-jährige Johan Henrich Bühmann, ein Bauernsohn und ausgelernter Webergeselle. Man kann nur mutmaßen, warum er bei der Zunftgründung nicht aufgenommen wurde – war er zu jung? Hatte er ein „falsches Elternhaus“? Finanziell war der Unterschied zwischen Meister und Geselle spürbar, zudem hatte Johans Vater auch noch Schulden auf dem Hof. Die neue Zunftordnung vom Januar 1728 verlangte vor der Meisterschaft zwei Jahre Wanderschaft – schwierig für einen Jungen aus nicht ganz so abgesichertem Hause. Immerhin gelang es Johan, schon 3 Monate später, am 25. April 1728, in die Zunft eingeschrieben zu werden. Dies schaffte er mit Können und Köpfchen. Denn er webte etwas, was man nicht weben kann. Zwei Hemden ohne Naht, samt Ärmeln. Und mit diesen ging er direkt zu seinem Landesherrn, dem Grafen in Bückeburg, der ihn umgehend zum Meister erhob. Graf Friedrich Christian zu Schaumburg-Lippe schenkte eines der beiden Hemden dem König von Portugal, das andere gab er Johan zurück: Er solle es für seine Nachkommen aufbewahren. So sagt die Legende.
Das Hemd ohne Naht ist eines der Exponate im Steinhuder Museum (Fischer- und Webermuseum, Spielzeugmuseum / www.steinhuder-museen.de), das von der Geschichte und den Menschen des Ortes erzählt. Einst arbeiteten die meisten Fischer auch als Weber, weil man vom Fischverkauf allein kaum leben konnte. Das Meer prägte das Leben der Steinhuder Menschen. Viel Ackerland gab es nicht – zu viel Fläche war See oder Moor – und ertragreich war der Boden auch nicht. Flachs, der Rohstoff für Leinen, gedieh aber prächtig. Also Weben als Zubrot? Für den Hausgebrauch webte man auf dem Lande überall, aber die Steinhuder wollten ihre Stoffe verkaufen, in Hamburg und Bremen auf dem Stoffmarkt. Also durfte es kein „Bauernleinen“ sein, sondern mindestens Drell, also ein fester und feiner Stoff u. a. für Bettwäsche. Um diese vierbindige Kettköperbindung herzustellen, benötigt man einen aufwändigeren Webstuhl, und auch eine Ausbildung – kurzum: ein Stoff, der eine Professionalisierung verlangte.
Das Meer prägt das Leben der Steinhuder Menschen auch heute: Der mit 29 km² größte Binnensee Niedersachsens war und ist ein zentraler Wirtschaftsfaktor. An Stelle der Fischerei und Flachsverarbeitung ist heute die Naherholung getreten. Steinhude ist schnell zu erreichen: vom hannoverschen Hauptbahnhof aus dauert es mit Bahn und Bus keine 45 Minuten. Einst gehörte Steinhude zu Schaumburg-Lippe, aber die Gebietsreform 1974 machte es zum Ortsteil von Wunstorf.
Doch zurück zum Hemd ohne Naht: Das ließ uns 2015 in den Steinhuder Museen keine Ruhe. Etwas, was man nicht weben kann? Wie hat er es dann gemacht? Wir begannen zu forschen. Im Winter 2014/15 war das Hemd in Braunschweig und wurde von einer Textilrestauratorin unter dem Mikroskop fadengenau untersucht. Ab März ging ein Team aus Studierenden der Geschichte der Leibniz Universität unter fachlicher Anleitung daran, die Quellenlage aufzuarbeiten.
Die Ergebnisse wurden ab August 2015 in der Sonderausstellung „Stoff für Geschichte(n), das Hemd ohne Naht“ gezeigt, die durch einen Webblog begleitet wurde. Das Geheimnis aber bleibt bis heute (siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Hemd_ohne_Naht).
Sandra Kilb
Sandra Kilb war seit 2011 im Fischer- und Webermuseum Steinhude tätig und arbeitete 2015 mit eine Gruppe Studierender des Historischen Seminars der Leibniz Universität Hannover zur Geschichte des besonderen Hemds. Seit 2017 ist sie als Bildungsreferentin bei der Landesvereinigung Kulturelle Jugendbildung tätig. .
Der Text erschien bereits als Artikel in der Reihe „hannover historisch“ im hannoverschen Magazin „STADTKIND“ in Ausgabe 08/2015. Die Wiederveröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des STADTKIND-Magazins. Die Kolumne „Hannover historisch“ wird betreut von Prof. Dr. Carl-Hans Hauptmeyer.