Es begleitet uns heute täglich, auf Notariats-und Gerichtsschildern, amtlichen Briefbögen, Fahnenumzügen sowie auf Visitenkarten von Landtagsabgeordneten: Dasweiße Roß auf rotem Grund ist immer dabei. Gleichwohl war es nach 1945 nicht leicht, sich auf dieses edle Tier als “Marken-und Erkennungszeichen” für alle Niedersachsen zu verständigen.
Braunschweigern, Hannoveranern und Oldenburgern war das Pferd zwar vertraut, zumal es auch Bestandteil ihres jeweiligen Wappens war; darüber hinaus wurde es in der Landeshymne des ehemaligen Großherzogtums Oldenburg sogar besungen: “Heil dir, 0 Oldenburg! Heil deinen Farben! Gott schütz dein edles Roß, er segne deine Garben!” Dennoch bedurfte es eines intensiven parlamentarischen Diskussionsprozesses, um das Ross als Landeswappen auf Trab zu bringen und zu dem zu machen, was es heute ist: Hoheitszeichen und Identitätssymbol zugleich.
Der Landtag hatte es sich nicht leicht gemacht und sogar einen Unterausschuss “Flaggen-und Wappenfrage” eingesetzt. Mit der Verabschiedung der Vorläufigen Niedersächsischen Verfassung am 13. April 1951 und der Formulierung in Art 1 Abs. 2: “Niedersachsen führt als Wappen das weiße Roß im roten Felde”, wurde eine neue Verfassungsbestimmung in Kraft gesetzt. Der Beschluss bewirkte aber noch mehr, denn das Tier wurde durch diesen Parlamentsbeschluss gleichsam aus seiner welfischen Umzäunung, in die es die antipreußische Totalopposition nach 1866 eingesperrt hatte, befreit, demokratisiert und in die sich entwickelnde demokratische Bürgergesellschaft der zweiten Hälfdes 20. Jahrhunderts integriert.
Der erste Ministerpräsident Hinrich Wilhelm Kopf hatte ein Gespür dafür,dass das Fehlen einer Landesidentität auf Dauer ein Problem werden könnte. Zu eigenständig hatten sich im Laufe der Jahrhunderte kulturelle und konfessionelle Eigenarten entwickelt, als dass man sie übergangslos neu zusammenfügen konnte. In dieser Lage versuchte er Gemeinsamkeiten zu formulieren, die es nicht gab. So erklärte er 1946 vor den Abgeordneten: “Das Land ist kein künstliches Gebilde, sondern durch die Stammesart seiner Bewohner, durch seine gleichartige Struktur, Tradition und . wirtschaftliche Geschlossenheit ein organisch gewachsenes, zusammenhängendes Ganzes”. Die Auffassung, dass es von Aurich bis HannoverschMünden und von Helmstedt bis Bad Bentheim eine signiflkante, unverwechselbare sächsische Stammesart gegeben habe, entsprach zwar einem politisch verständlichen Wunschdenken, doch nicht den historischen Fakten. Die Empathie mit der Kopf für Niedersachsen als Ganzes warb, ist jedoch anerkennenswert. In diesem Sinne ist es auch verständlich, dass er das von Hermann Grote 1926 komponierte Niedersachsenlied oft und inbrünstig sang: “Wir sind die Niedersachsen, sturmfest und erdverwachsen, Heil Herzog Widukinds Stamm!”
Wenn man die Frage nach der Herkunft unseres Wappentieres beantworten will, gerät man unversehens an den römischen Geschichtsschreiber Publius CorneliusTacitus (um 58 -120 n. Chr.). Er schildert die Verehrung von Pferden durch germanische Stammesangehörige: “Eine Eigenheit des Volkes ist es […] Prophezeiungen von Pferden zu beachten”. Offenbar hatte sich die Verehrung des Pferdes durch die germanischen Stammesmitglieder übergangslos auf die Sachsen übertragen. Beim Friedensschluss zwischen Karl dem Großen und Widukind ließ sich der Sachsenherzog imJahr 785 taufen und erhielt angeblich dafür vom Frankenkönig als Zeichen der Wandlung ein weißes pferd geschenkt − wer’s glaubt wird selig, aber interessant ist die Geschichte allemal!
Doch erst im12. Jahrhundert hatte sich der Gebrauch von Wappen verbreitet. Historiker halten das Reitersiegel von Herzog Albrecht II. von Grubenhagen aus dem Jahr 1361 für das älteste heraldisch nachgewiesene welfische Sachsenross. Die Verwendung des Pferdes diente wohl dazu, eine Brücke der ursprünglic haus Süddeutschland stammenden Welfen zu den Sachsen zu schaffen. 1714 gelang dem Pferd sogar der Sprung vom europäischen Festland auf die britischen Inseln. Mit dem Amtsantritt von Kurfürst Georg Ludwig als englischer König Georg I. erschien eine Medaille, die das Ross auf dem Sprung über den Ärmelkanal zeigt. 1881 schließlich musste auch Preußen das weiße Ross im Großen Wagen der Provinz Hannover akzeptieren.
Hinrich Wilhelm Kopf kannte das Land gut. Gerade deshalb bleibt festzuhalten, dass der Reiz des heutigen Territoriums des Bundeslandes Niedersachsen nie in einer imaginären, gemeinsamen Stammesart, sondern schon immer in den historischen, landschaftlichen und kulturellen Vielfalt seiner Regionen zu finden war. Insofern ist das weiße Ross auf rotem Grund heute ein Symbol für eine Zusammengehörigkeit in kultureller und historischer Verschiedenheit geworden.
Jürgen Gansäuer
studierter Historiker und ehemaliger Landtagspräsident Niedersachsens.
Der Text erschien bereits als Artikel in der Reihe „hannover historisch“ im hannoverschen Magazin „STADTKIND“ in Ausgabe 05/2015, S. 32. Die Wiederveröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des STADTKIND-Magazins.
Die monatliche Kolumne „hannover historisch“ wird betreut von Prof. Dr. Carl-Hans Hauptmeyer.